Geschichte Nr. 39

Der lebenstüchtige Regenwurm


Es war einmal ein Regenwurm, der hatte den ganzen kalten Winter hindurch zusammengerollt tief in der Erde gelegen und freute sich nun auf den herrlichen Frühling. Dabei spekulierte er keineswegs auf dessen frisches Grün. Im Gegenteil, wenn er auf seiner nächtlichen Jagd im Gras etwas Nahrhaftes vorfand, zog er es zu sich herab, um es erst einmal unter der Erde verwesen zu lassen. Er wusste natürlich nicht, was für einen großen Gefallen er damit den Menschen tat, denn die Wühlerei lockerte den Humusboden, so dass Feuchtigkeit und Sauerstoff eindringen konnten, was wiederum den ganz winzigen Lebewesen zugute kam, die der große Regenwurm nicht einmal beachtete. Aber diese Kleinen sorgten für den Stickstoffumbau und für die Fruchtbarkeit des Bodens.

Dieser Regenwurm also schlängelte sich zwei Meter aufwärts, um im Schutz der Nacht endlich mal wieder nach den Sternen des Lebens auszuschauen. Doch kaum hatte er seinen kegelförmigen Kopflappen durch die Erdoberfläche gebohrt, da zuckte er auch schon erschrocken zurück: Es war schon Tag. Er hatte sich verrechnet, das heißt, sein Gefühl hatte ihm ein Schnippchen geschlagen. Und ehe der irritierte Wurm noch recht begriff, was ihm geschah, zerrte ihn eine Amsel schon vollends aus seinem Steigrohr.

In seiner Panik zappelte der Regenwurm so ungestüm auf und ab, dass der Vogel, der wohl noch nicht viel Erfahrung hatte, zu kräftig zubiss: Er zerschnitt den Wurm, so dass sein Kopfteil links und sein Hinterteil rechts vom Schnabel niederfiel.

Da die ganze Klugheit des Regenwurms im Kopf steckte, in diesem kegelförmigen Lappen, den er lieber zum Graben als zum Denken brauchte, war das hintere Ende der Amsel hilflos ausgeliefert. Doch während der Vogel es verschlang, hatte das Vorderteil Zeit, sich wieder in die Erde zu bohren und flugs ein Stück welkes Blatt über das Loch zu ziehen, um es zu verdecken.

"Hach!" seufzte der gerettete Rest des Regenwurms, "das ist ja nochmal gut- gegangen. Bin zwar auf die Hälfte zurückgestutzt, aber mein Gehirn, das hab ich noch. Alles andere wächst von selber wieder nach."